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"The Testaments" von Margaret Atwood



Worum geht’s?

Fans fieberten jahrelang der Fortsetzung von Margaret Atwoods berühmtester Dystopie The Handmaid’s Tale entgegen. Im September 2019 beglückte sie ihre Crowd nach 35 Jahren Wartezeit endlich mit The Testaments - und katapultierte sich und das Werk direkt auf sämtliche Bestsellerlisten.


Dabei ist “Fortsetzung” eigentlich nicht der richtige Begriff. The Testaments spielt zwar im selben spekulativen Universum, in Gilead, wo Frauen Personen zweiter Klasse sind, knüpft aber nicht an der Geschichte der Magd Offred aus The Handmaid’s Tale an. In rotierender Abfolge erzählen drei neue weibliche Charaktere rückblickend ihre Geschichten und deren Verflechtungen mit Gilead: die gottestreue Gilead-Schülerin Agnes, Aunt Lydia, die “mächtigste” Frau in Gilead, und Nicole, die im an Gilead angrenzenden Kanada aufgewachsen ist. Ihre Erzählungen sind die titelgebenden Testamente. Als Zeuginnen bringen sie zu Protokoll, in welchen Rollen die Frauen in der Gesellschaft von Gilead gefangen sind: Sie dienen entweder als Gebärmaschine (durch systematische Heirat oder Vergewaltigung), aber auch Haushaltshilfe, keusche Ehefrau oder emsige Ameise, die an der Aufrechterhaltung des totalitären Staates mitarbeitet, stehen für die Frauen zur Wahl.


Durch die Konstellation der Perspektiven blickt man als LeserIn von drei Seiten in die abstruse und fanatische Welt von Gilead ein: in den systematischen Aufbau, wie Frauen grausam in ihre Rollen “umerzogen wurden” und wie Mädchen von kleinauf in diese diktatorische und gewaltbestimmte Welt hinein sozialisiert werden. Aber Agnes, Lydia und Jade/Nicole schildern nicht einfach. Schnell wird klar: Unter der Oberfläche lauert mehr, es gibt einen Plan und irgendwie hängen die Schicksale aller drei miteinander zusammen. Lest selbst - besonders gegen Ende war ich total im Leserausch!


"The truth was that they'd cut Crystal open to get the baby out, and they'd killed her by doing that. It wasn't something she chose." ('The Testaments' - Margaret Atwood)

Gelesen auf: Englisch

Nase zwischen den Seiten: 10 Abende

Seitenanzahl: 419

Preis: 25,00€ (D)

Erschienen im September 2019 im Berlin Verlag als "Die Zeuginnen"

ISBN: 978-3827014047


Tipps & Tits

The Handmaid’s Tale vorher noch mal zu lesen, ist echt kein Muss. Eine Freundin meinte, dass man so zwar mehr direkte Referenzen erkennt und sich die Unterdrückung in Gilead besser ins Bewusstsein rufen konnte. Aber ich fand eine freshe Lesebrille besser.

Boobscore: 5 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • ) ( • )

Margaret Atwood ist eine unangefochtene Königin des Boob Score, denn ihr Werk deckt mal wieder so viele relevante Themen ab und greift gesellschaftliche Misstände auf. Was Atwood schon so brutal-ehrlich in The Handmaid’s Tale schilderte, erweitert sie noch mal um einige Stufen in The Testaments, einfach weil wir mehr Perspektiven bekommen. Besonders steht im Fokus, wie Mädchen und junge Frauen von Kindesbeinen an in ein gesellschaftliches Korsett gezwängt werden: Lesen und Schreiben braucht man nicht lernen, dafür aber Sticken. Das beeindruckt schließlich den zukünftigen Ehemann, der mehr oder weniger auf der Matte steht, sobald die Mädels ready sind, um Kinder zu bekommen. Kinderehen sind in Gilead ebenso Teil des Systems wie sexuelle Übergriffe, Vergewaltigung und körperliche Gewalt von Männern gegenüber Frauen - und von Frauen (in Machtpositionen) gegenüber Frauen.


"The adult female body was one big booby trap as far as I could tell. If there was a hole, something was bound to be shoved into it and something else was bound to come out ..." ('The Testaments' - Margaret Atwood)

Beim Lesen kann man kaum übersehen, wie sorgfältig Atwood das System in ihrem fiktiven Staat geplant hat. Jedes Detail, jede einzelne Position hat ihren Platz. Abweichungen von der Norm gibt es in Gilead nicht. Und falls doch, zum Beispiel Cross-Dressing, gibt’s prozesslos die Todesstrafe, durch Hängen, durch Erschießen oder, wie wir das schon aus The Handmaid’s Tale kennen - durch Zerfleischung von losgelassenen Handmaids. Und alles in Gilead wird begründet durch und fußt auf den Prinzipien des Christentums bzw. auf Interpretationen von Gleichnissen aus der Bibel. Ein Mädchen fragt, warum eine Frau keusch zu sein hat. Zack - gibt’s die passende Bibelstelle. Dadurch schafft Atwood eine Welt, die nicht absurd und fahrig zusammengefriemelt wirkt, sondern unter gegebenen Umständen allzu real. Und die Gewalt und Unterdrückung der Frau, die uns auf fast jeder Seite im Buch begegnet, könnte sich 1:1 so in anderen Teilen der Welt oder in Deutschland genauso abspielen. Dadurch laufen einem (zumindest mir) permanent Schauer über den Rücken. Welchen Aspekt ich besonders gelungen fand ist, dass Atwood unverblümt aufzeigt, wie auch Frauen durch das System der Korruption verfallen. Haben sie einmal die Macht, nutzen sie diese schamlos aus für falsche Anschuldigungen und Folter. Gilead wird nicht von Einzelnen getragen. Jede/r hilft auf seine oder ihre Weise mit, das System zu tragen. Erinnert euch das vielleicht an was?


Literarisches Feuerwerk?

Bei Atwood - immer! Auch in The Testaments kommen Fans literarisch absolut auf ihre Kosten. Nicht nur ist der Text sprachlich klug und die Handlung fesselnd, der Plot ist auch clever konstruiert: Manchmal spricht eine Figur direkt zur Leserschaft und tritt sozusagen “durch die vierte Wand”. Und es gibt noch eine herrlich-clevere Rahmenhandlung, die ich aber hier nicht vorwegnehmen will. Atwood halt.


Leseerlebnis

Ja, diese Kategorie gibt’s bei uns sonst nicht in Rezensionen, aber für dieses Buch braucht es sie einfach. Und zwar deswegen, weil ich selbst mit dem Buch glücklich und unglücklich zugleich war. Glücklich deswegen, weil der Roman unheimlich klug konstruiert ist, feministische Themen aufgreift und auch noch toll geschrieben ist. Unglücklich war ich aber auch, weil The Testaments einfach trotz allem für mich “zu forciert” war, zu “konstruiert”.


Eine Dystopie lebt aus meiner Sicht dadurch, dass man sie nicht zu Ende denken und zu Ende erzählen muss. Die Lücken, die Der Report der Magd/The Handmaid’s Tale in uns hinterlassen, erweckt genau diese Gefühle von Unsicherheit und Zweifel, die einen immer wieder zum Reflektieren und Nachdenken anregen. Aus dieser Perspektive hätte es das Buch als Ergänzung nicht mehr gebraucht. Fazit: Definitiv ein lesenswertes Buch, aber bei weitem nicht Atwoods bestes Werk.


Stoff zum Nachdenken

Auch hier muss ich noch mal kritisch werden. Beim Lesen tauchten dann doch einige Ungereimtheiten auf. Einfaches Beispiel: Die Größe von Gilead ist absolut unklar. Die Ambivalenz ist ja auch ein netter Spannungsfaktor. Aber manchmal gibt’s Andeutungen im Text, die einfach keinen Sinn ergeben. Und vieles ist mir zu sehr Deus ex machina.


Bestes Geburtstagsgeschenk für…

… natürlich alle, die The Handmaid’s Tale oder sonst irgendetwas von Margaret Atwood gelesen haben! Und eigentlich auch sonst für jede/r, die/der Bock auf eine richtig gute Dystopie hat - die Königin der düsteren Zukunftsszenarien gibt uns mal wieder alles, wonach wir verlangen.


Happy Hour

Minztee - auch wenn der vielleicht einen bitteren Beigeschmack hinterlässt. Alternativ halt doch Alkohol, gibt’s in Gilead schließlich nur für Kerle.


Zu dieser Lebenslage passt das Buch

Ihr chillt gerade in einer Buchhandlung rum und wisst nicht, wonach euch die Finger jucken. Ganz klar - The Testaments und ab damit auf den Lesesessel oder auf den Buchhandlungsboden.


A little Bio never killed nobody

Margaret Atwood, selbst Kanadierin, ist eine der angesehensten Schriftstellerinnen der rein westlichen Welt. Bekanntheit erlangte sie u.a. mit Der Report der Magd/The Handmaid’s Tale, doch auch in vielen anderen Werken erkundet sie Visionen zukünftiger Welten, verarbeitet gegenwärtige Ängste und anhaltende Stereotypen. Auch Female Empowerment ist Teil ihres Themen-Settings, beispielsweise in Die Penelopiade, Die Räuberbraut oder Die Eßbare Frau. Ihr allererstes Werk hatte noch einen anderen Fokus: Mit sieben Jahren schrieb sie eine Geschichte über eine Ameise. 2019 wurde Margaret Atwood für The Testaments nicht nur mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, sondern auch 80 Jahre alt. Arte hat vor Kurzem eine tolle Doku über ihr Leben gesendet.


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