"Vox" von Christina Dalcher
Aktualisiert: 3. Juni 2020

Worum geht’s?
Das Buch beginnt mit einem Accessoire: einem Armband. Jede Frau, jedes Mädchen, jedes menschliche Wesen weiblichen Geschlechts trägt eins. Auf der Anzeige des Armbands ist ein Counter zu sehen, wie bei einem Fitness-Tracker. Nur zählt dieser Tracker jeden Tag ab Mitternacht von 100 runter - 100 gesprochene Worte stehen jeder Frau in Amerika pro Tag zur Verfügung. Übertritt frau das Limit, wird sie von einem heftigen Stromschlag niedergestreckt. Das Pure Movement mit Reverend Carl an der Spitze hat sich in dieser Dystopie durchgesetzt und die Welt ziemlich umgekrempelt: Frauen dürfen nicht mehr arbeiten, schmeißen den Haushalt und dienen sonst hauptsächlich dem Kindergebären. Wie in den 1950ern - yeay! Männer arbeiten währenddessen, führen das Land, haben die Welt unter Kontrolle. Sex vor der Ehe ist gesetzlich verboten, ebenso wie alle Verbindungen außer zwischen Mann und Frau. Wer sich nicht fügen will, kommt in “Umerziehungslager” oder vors Schießkommando. Lovely, und vor allem nicht so anders wie in manchen Ländern dieser Welt ….
Dr. Jean McClellan ist die Hauptfigur und Ich-Erzählerin des Romans. Sie reflektiert viel darüber, dass sie aktuell ohne Stimme nichts in der Welt bewegen kann. Verheiratet ist sie mit Patrick, einem hohen Tier in der Regierung des Pure Movements, der selbst das Movement zwar nicht unterstützt, aber für einen anarchischen Aufstand nicht die Eier in der Hose hat.
“Sometimes, I trace invisible letters on my palm. While Patrick and the boys talk with their tongues outside, I talk with my fingers.” ('Vox' - Christina Dalcher)
Die Chance, wirklich etwas zu verändern kommt, als der Bruder des Präsidenten einen Unfall hat. Diagnose: Aphasie, er kann weder Sprache verstehen noch sprechen. Wie praktisch, dass Jean vor der Zeit des Pure Movement und ihren Kindern Neurolinguistin, führend auf ihrem Gebiet, war. Sie soll als Teil eines streng geheimen Forschungsteams ein Serum zur Heilung des Präsidentenbruders entwickeln. Der Deal: Ihr Armband kommt ab - sie erhält ihre Stimme zurück. Das Problem: In ihrem Team ist auch Lorenzo, ihr ehemaliger heißblütiger Liebhaber aus Italien. Und dann entdeckt Jean auch noch, dass hinter ihrer Forschungsarbeit vielleicht mehr steckt, als sie zunächst dachte ….
“But these words that I’m about to unleash, they’ll never be absorbed. Each syllable, each morpheme, each individual sound, will bounce and ricochet forever in this house.” ('Vox' - Christina Dalcher)
Rezensiert habe ich dieses Buch, weil es mir eine Freundin mit den Worten ausgeliehen hatte: “Ich hab’ noch nie etwas so Blödes und Misogynes gelesen”. Musste ich natürlich lesen.
Gelesen auf: Englisch
Nase zwischen den Seiten: 5 Abende
Seitenzahl: 326
Preis: ca. 12,00€ (D)
Erschienen im August 2018 bei Penguin
Deutsche Ausgabe: S. Fischer Verlag
Tipps & Tits
Alle, die The Handmaid’s Tale gelesen haben, werden bei der Lektüre an den Punkt kommen: Ok, das liest sich ja teilweise wie eine Kopie, wo liegt der Mehrwert? Macht weiter.
Boobscore: 2 von 5 Boobs ( • ) ( • )
Eigentlich hätte das Buch echt Potenzial gehabt. Die Zutaten sind alle da: eine Gesellschaft, in der Frauen ihrer Stimme beraubt werden, in der sie wie in den guten alten Zeiten nur in der Küche stehen und ein Kind nach dem anderen aus sich hinauspressen. Aber leider funktioniert das alles in der Kombination und im Plot nur so semi-gut. Das liegt mitunter daran, dass …
… die Hauptfigur Jean/Gianna nicht wirklich überzeugt: Irgendwie war sie vor dem Pure Movement Mitläuferin, aber jetzt plant sie auf einmal den Umsturz der Welt. Unglaubwürdig. Zudem entwickelt sie, obwohl sie seit einiger Zeit nicht mehr geforscht hat, in nullkommanichts das Allheilmittel für Aphasie.
… letztendlich in dem Roman zu viele Elemente super positiv ineinandergreifen, sodass es zu einem (Spoiler!) Happy End kommt, mehr oder minder. Aber dann ist das keine Dystopie à la Margaret Atwood mehr, die uns die eigenen gesellschaftlichen Zustände tragisch spiegelt, sondern ein Disneyfilm, der sich die feministische Latzhose anzieht.
Literarisches Feuerwerk?
Eher weniger - die Sprache von Dalcher ist wenig poetisch, kaum bildlich und meistens einfach schlicht beschreibend. Selten hatte ich mal einen Satz oder ein Zitat, dass ich mir wirklich anstreichen wollte.
Stoff zum Nachdenken
Wie erlernen und verarbeiten wir Sprache und was geschieht dabei in unserem Gehirn? Außerdem natürlich: Welchen Randgruppen und Minderheiten wird in unserer Society immer noch keine Stimme gegeben, wer wird immer noch “gesilenced”?
Bestes Geburtstagsgeschenk für ...
... puuuh, schwierig! Vielleicht für Leute, die gerne mal eine Dystopie lesen, die sich am Ende zurechtrückt? Gibt es solche Gruppen von LeserInnen?
Happy Hour
Italienischer Espresso. Der kommt so oft im Text vor, dass man gar nicht drum herum kommt, beim Lesen auch einen zu wollen. Und zwar pronto!
Zu dieser Lebenslage passt das Buch
Wenn ihr Lust auf ein Margaret Atwood-Buch habt (wer kennt diesen Zustand nicht), aber alle ihre Bücher schon gelesen habt. Erwartet allerdings nicht dasselbe stilistische Niveau.
A little Bio never killed nobody:
Die Amerikanerin Christina Dalcher absolvierte ihren Doktor in Theoretischer Linguistik an der renommierten Georgetown University. Dort forschte sie - surprise, surprise - zu Sprachverlust und zur Phonetik in italienischen und britischen Dialekten. Vor Vox, ihrem Debütroman, publizierte sie bereits zahlreiche Kurzgeschichten in Magazinen und Zeitschriften.
