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"Menschliche Dinge" von Karine Tuil



Worum geht’s?

Zunächst steht die Familie Farel, bestehend aus dem Vater Jean, der Mutter Claire und ihrem gemeinsamen Sohn Alexandre, im Zentrum der Handlung. Jean, ein alternder, eitler Medienmogul, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und sich durch Charisma und Straßenschläue an die journalistische Spitze Frankreichs katapultierte, ist nichts wichtiger als sein Ego und die Liebe seines Publikums. Seit Jahren führt er ein Doppelleben mit einer anderen Frau, hat Affären und zeigt sich mit Claire nur für wichtige Pressetermine. Claire, die wesentlich jünger ist und ebenfalls als anerkannte Journalistin arbeitet, stört sich nicht daran, denn sie verliebt sich zu Beginn des Romans in einen jüdischen Lehrer, mit dem sie ein neues Leben beginnen will. Dazwischen steht der hochbegabte Alexandre, der in Stanford studiert. Alexandre scheint zerrieben zwischen dem Ringen um die Aufmerksamkeit seiner Eltern und dem Druck, eine steile Karriere hinzulegen. Entsprechend scheint es kein Wunder, dass Alexandre schon einen Suizidversuch hinter sich hat.


Als Mila, die 18-jährige Tochter von Claires neuem Lebensgefährten Adam nach Paris kommt, nimmt die Handlung eine dramatische Wendung: Alexandre nimmt Mila mit auf eine Party, sie trinken, kiffen, haben Sex in einem Hinterhof. So schildert Alexandre aus seiner Perspektive die Ereignisse des Abends. Doch am nächsten Tag klopft die Polizei an seine Tür. Mila hat ihn wegen Vergewaltigung angezeigt. Aus ihrer Perspektive, die durch Gerichtsprotokolle und Interviews ebenfalls dargestellt wird, lief der Abend nämlich ganz anders ab, mit Drohungen, Gewalt und Zwang.


Der Titel Menschliche Dinge fasst letztendlich passgenau, worum es in Karine Tuils Roman geht: um die “conditio humana” und um den Menschen als ewig wandelnden Widerspruch. Wie kann es denn sein, dass jede*r scheinbar beide Seiten in sich trägt: Sittlichkeit und dann wiederum tiefe moralische Abgründe? Lest selbst - eine eindeutige Urteilsbildung ist genau das, was der Roman herausfordert.


“Bei den Ultraorthodoxen will keiner mehr ein Mädchen, das vergewaltigt wurde.” (“Menschliche Dinge” - Karine Tuil)

Gelesen auf: Deutsch als Rezensionsexemplar

Nase zwischen den Seiten: 12 Abende

Seitenanzahl: 348

Preis: 20,00€ (D)

Erschienen: August 2020 beim Claassen Verlag

ISBN: 9783546100021


Tipps & Tits

Karine Tuil bastelt manchmal Sätze, die einfach unheimlich lang und verschachtelt sind (was natürlich auch an der Übersetzung liegen könnte). Besonders am Anfang musste ich mich beim Lesen daran gewöhnen, aber dann lernte ich ihren Schreibstil wirklich zu schätzen. Und es braucht eine Weile, bis es von der Handlung her “so richtig zur Sache” geht. Geduldig sein lohnt sich hier wirklich!


Boob Score: 4 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • )

Entlang der ersten 100 Seiten war für mich noch unklar, ob das Buch Potenzial für einen hohen Boob Score hat. Doch nach etwa einem Drittel entfaltet der Roman auf einmal seine feministische “Wirkung”: Zum Beispiel zeigt er auf, dass sexuelle Übergriffe durch alle sozialen Schichten und Kulturen hindurch geschehen. Sie werden nicht, wie Claire es andeutet und wie es auch gerne mal in den Medien und von bestimmten Parteien gepusht wird, hauptsächlich von illegalen Einwanderern begangen. Was zudem als sexueller Übergriff gewertet wird, ist je nach Wahrnehmung komplett verschieden: Während für die eine Person erst die Penetration zählt, ist für die andere Person ein sexistisches Schimpfwort bereits ausreichend. Noch interessanter ist aber, wie der Text mit der Frage umgeht, wie gegenseitiges Einverständnis beim Sex zustande kommt bzw. wie die beteiligten Parteien damit umgehen. Während die eine Seite nur ein “Nein” als “Nein” gelten lässt, wertet die andere Seite körperliches Erstarren, Angst und Widerwillen ebenso als ein “Nein”.


“‘Was verstehen Sie unter einer Vergewaltigung?’, fragte der Beamte Alexandre. ‘Eine Vergewaltigung ist, wenn ein Mann eine Frau zu einem Geschlechtsverkehr zwingt, zu dem sie keine Lust hat. Das ist absolut nicht mein Ding!’” (“Menschliche Dinge” - Karine Tuil)

Außerdem stellt der Text ins Zentrum, wie die Opfer von sexuellen Übergriffen auch Jahre danach unter den Folgen solcher Taten leiden. Kurzum, Menschliche Dinge spiegelt unserer Gesellschaft wider, welchen langen Weg wir noch zu gehen haben in diesen Fragen, nicht nur juristisch, sondern auch zwischenmenschlich. Und dass die Perspektiven manchmal sehr verschieden sein können. Deswegen besser zwei Mal fragen und dem/der* anderen mit Empathie und Respekt begegnen.


Literarisches Feuerwerk?

Durch die teils komplexen Schachtelsätze etwas verschwurbelter, als es unbedingt sein müsste. Aber Karine Tuil legt meistens eine wirklich tolle Sprache vor, durch welche die Charaktere dreidimensional erscheinen und zum Leben erwachen. Manchmal kam’s mir beim Lesen so vor, als würde ich eine spannende Drama-Serie gucken, so echt wirkten Jean, Claire und Alexandre bzw. die ganze Gerichtsverhandlung um den Vergewaltigungsvorwurf.


Stoff zum Nachdenken

In Erinnerung blieb mich für v.a., wie fragil die Konzepte Wahrheit und Geschichtsschreibung sind. Was für die/den eine*n eine wahr ist, kann für die/den andere*n beinahe das Gegenteil sein. Dadurch wird auch deutlich, wie schwierig es ist, im Nachhinein die Vergangenheit zu rekonstruieren: Jede*r erinnert sich an unterschiedliche Details, wodurch unterschiedliche Interpretationen zustande kommen. Verknüpft mit der heiklen Thematik ist das wirklich berührend und kopfzerbrechend zugleich.


Bestes Geburtstagsgeschenk für…

… gute Freund*innen, Verwandte, Kolleg*innen … eigentlich alle, die Lust haben, sich auf ein Buch einzulassen, das einen dazu herausfordert, seine eigenen Ansichten kontinuierlich zu hinterfragen. Und alle, die “leseerfahren” sind, denn schnell runter liest sich Menschliche Dinge definitiv nicht.


Happy Hour

Alkohol passt nicht so wirklich zu dem Text (ergibt sich aus der Handlung bzw. der Summary), aber ein starkes Käffchen oder eine leckere Schorle! Darf man sich ja auch mal gönnen.


Zu dieser Lebenslage passt das Buch

Liest sich echt gut auf einem Liegestuhl oder auf dem Balkon draußen in der Sonne, wenn man gerade den Kopf von der Arbeit oder anderen Dingen freibekommen will. Der Inhalt lenkt eure Aufmerksamkeit definitiv zu neuen Themen.


A little Bio never killed nobody

Die Pariserin Karine Tuil, Jahrgang 1972, ist von Haus aus Kommunikationswissenschaftlerin und Juristin, inzwischen aber vor allem in Frankreich und international eine viel gefeierte Autorin. Neben Menschliche Dinge beschäftigt sie sich auch in anderen ihrer Werke wie Die Gierigen (2013) und Die Zeit der Ruhelosen (2016) mit Fragen der Politik, Medien, Ethik und der Rechtsprechung. Aktuell schreibt sie an ihrer Doktorarbeit. Mehr Infos findet ihr auf ihrer Homepage: http://www.karinetuil.com/homepage.html.


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