"Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" von Ottessa Moshfegh
Aktualisiert: 26. Juli 2020

Worum geht’s?
Wer Mein Jahr der Ruhe und Entspannung in die Hand nimmt, um sich in ein literarisches Wellness Areal zu begeben, wird höchstwahrscheinlich enttäuscht werden. Das Buch dreht sich um eine junge New Yorkerin, die sich ein ganzes Jahr in einen tiefen Winterschlaf begeben möchte, um danach wieder genug Energie zum Leben zu haben. Ja, ihr habt richtig gelesen und nein, das Buch ist nicht nur schnarch, sondern eigentlich verdammt gut! Aber zur Sache: Der Winterschlaf kann natürlich nicht einfach so vonstatten gehen, Schlafmittel müssen her und so legt sich die namenlose Protagonistin eine Therapeutin, Dr. Tuttle, zu. “Zulegen” ist insofern das richtige Wort, als dass sie diese Dr. Tuttle mehr als Medikamentenbeschaffungsmaschine nutzt und eben nicht als ernsthafte Therapiemöglichkeit. Zugegebenermaßen ist das Interesse der Therapeutin an der Person der Protagonistin auch eher gering.
Auch die sonstigen zwischenmenschlichen Beziehungen der Protagonistin sind von Gleichgültigkeit geprägt. Ihre einzige Freundin, Reva, ist außerordentlich neurotisch. Gemeinsame Interessen teilen die beiden nicht, denn Revas Lieblingsthemen beschränken sich auf Körper, Typen und Statussymbole. Die Freundschaft zu Reva ist eine von den sogenannten “Convenience-Freundschaften”, also recht inhaltsleer. Die einzig wirkliche Liebesbeziehung führt die Protagonistin mit einem Typen namens Trevor und Hallelujah: “Sadistisches Schwein” wäre für seinen Charakter noch ein Euphemismus. Auf familiäre Unterstützung kann die junge Frau ebenfalls nicht hoffen, da ihre Eltern bereits vor einigen Jahren verstarben. Die Flashbacks, die die New Yorkerin immer wieder einholen, lassen jedoch darauf schließen, dass sie lebend auch keine Stütze gewesen wären und wahrscheinlich maßgeblichen Einfluss auf die psychischen Leiden ihrer Tochter hatten. Und so steht unsere wohlhabende Protagonistin so ziemlich alleine in dieser Welt.
Die scheinbar abgeklärte Art der New Yorkerin führt vielleicht bei manch einem/einer LeserIn zu Irritation. Das Paradoxon des Titels zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und so meint man an bestimmten Stellen, kein Buch über schwere Medikamentenabhängigkeit und tiefe Traurigkeit zu lesen, sondern viel eher über eine Juicin-Kur, nach dem Motto “einfach mal alles Toxische loswerden”. Genau das macht das Buch aber so interessant und nervenaufreibend. Fühlt man auf der einen Seite noch tiefe Empathie für die Protagonistin, so hasst man sie auf der nächsten abgrundtief. Diese Achterbahnfahrt der Gefühle lassen das Buch nicht langweilig werden, auch wenn es sich teilweise sehr schleppt.
Gelesen auf: Deutsch
Nase zwischen den Seiten: 6 Abende
Seitenanzahl: 304
Preis: ca. 12,00 €
Erschienen im September 2018 bei der Verlagsbuchhandlung Liebeskind
Tipps & Tits
Lest dieses Buch bloß nicht, wenn ihr euch in einer emotional instabilen Situation befindet. Das Buch kann wirklich runterziehen, auch wenn ab und zu die Sonne zwischen den Zeilen durchscheint. Ansonsten, nehmt euch Zeit und Herz für das Buch und lasst die Kapitel sacken (die sind nämlich echt lang). Das Buch lohnt sich, trotz allem, will aber vorsichtig ausgewählt sein.
“Als ich mit dem Aufzug hoch zu meiner Wohnung fuhr, dachte ich mir Tablettenkombos aus, die mich hoffentlich schnell ausknocken würden: Ambien plus Pacidyl plus Erkältungssirup. Luminal plus Ambien plus Wick Medi-Nait. Ich wollte einen Cocktail der meine Fantasie lähmen und mich in einen tiefen, langweiligen, reglosen Schlaf versetzen würde.” ('Mein Jahr der Ruhe und Entspannung' - Ottessa Moshfegh)
Boobscore: 2 von 5 Boobs ( • ) ( • )
Auch wenn zwischendurch Themen wie z. B. Body Image angesprochen werden, bleiben diese doch eher Randerscheinungen. Ein zentrales Thema allerdings ist der Druck, etwas zu sein, das man eigentlich gar nicht ist. Da das Buch im Jahr 2000 spielt und Social Media damals noch in der Zukunft liegt, war ich doch überrascht, unter was für einem Inszensierungswahn die jungen Frauen dort schon standen. Insbesondere bei den Gedanken und Aussagen von Reva kommt man ins Grübeln. Durch die Möglichkeiten sich heutzutage 24/7 im Internet zu präsentieren, ist dieser Druck nur noch größer geworden. Viele Menschen leben nicht mehr mit sondern für Social Media. Es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst werden, damit wir die Implikationen für unsere Psyche besser verstehen.
Literarisches Feuerwerk?
100%. Auch wenn der Plot einen zunächst vielleicht nicht vom Hocker reißt, ist das Buch meiner Meinung nach ein literarisches Meisterwerk. Allein auf die Idee zu kommen, ein Buch darüber zu schreiben, wie jemand eigentlich nichts anderes tut als zu schlafen, ist genial. Der Mehrwert des Buches entfaltet sich insbesondere aufgrund des literarischen Stils der Autorin. Das Buch ist nicht einfach zu lesen, aber wenn man ihm eine Chance gibt, lässt es einen nicht wirklich los. Der Schreibstil von Moshfegh ist so einzigartig, dass ich meinen würde, ihn unter hunderten wiederzuerkennen. Auch wenn ich ein paar Tage gebraucht habe, um mich von diesem Buch mental zu erholen, würde ich es jederzeit wieder lesen.
“Die Weidenzweige schwangen anmutig und majestätisch im Wind. Freundlichkeit lag darin. Schmerz ist nicht der einzige Maßstab für Wachstum, sagte ich mir.” ('Mein Jahr der Ruhe und Entspannung' - Ottessa Moshfegh)
Stoff zum Nachdenken:
Ein Thema, das mich seit Ende des Buches beschäftigt, ist der Medikamentenmissbrauch der Protagonistin. Mir wurde allein vom Lesen über die vielen Schlafmittel schlecht. Wie kann unser Gesundheitssystem, und vor allem auch unsere Gesellschaft, dafür sorgen, dass Menschen nicht von Psychopharmaka abhängig werden? Was ist die Verantwortung jeder Einzelnen? Das Buch hat mich für dieses Thema auf jeden Fall sensibilisiert und gezeigt, wie wichtig es ist, Menschen mit psychischen Krankheiten bewusst zu machen, dass man sich ernsthaft für sie interessiert und für sie da ist; egal, wen oder was sie gerade zur Unterstützung benötigen.
Bestes Geburtstagsgeschenk für ...
... Menschen, die viel lesen und an einem literarischen Experiment interessiert sind. Nichts für den Sommerurlaub zwischendurch.
Happy Hour
Definitiv plenty of Coffee trinken, meine lieben FreundInnen.
Zu dieser Lebenslage passt das Buch:
Meh. Bei schlechter Laune doof, weil es betrübt macht und bei guter Laune genau das Gleiche? Vielleicht liegt es auch an der derzeitigen Corona-Situation, dass mich das Buch so traurig gemacht hat. Deshalb: am besten nicht lesen, während Corona noch wütet.
“Plötzlich stand mir die Vorstellung meiner Zukunft völlig klar vor Augen: sie existierte noch nicht.” ('Mein Jahr der Ruhe und Entspannung' - Ottessa Moshfegh)
A little bio never killed nobody
Ottessa Moshfegh, geboren 1981 in Boston, Massachusetts, absolvierte ihr Studium am Barnard College in New York und an der Brown University. Ihr Debütroman “Eileen” gewann den Hemingway Award und war nominiert für den Booker Prize for Fiction. Der New York Times sagte sie kürzlich, dass sie das Datum kennt, an dem sie sterben wird, dieses aber ungerne publik machen würde, denn das sei dann doch etwas zu privat.