“Identitti” von Mithu M. Sanyal

Worum geht’s?
Nivedita, 26 Jahre alt, studiert Postcolonial Theory an der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf, und ist auf der Suche nach ihrer Identität. Denn Nivedita ist ist “mixed”, mit einer polnischen Mutter, einem indischen Vater und einer deutschen Geburtsurkunde. Entsprechend fragt sich Nivedita, was denn nun ihr Ichbewusstsein, ihr eigentliches Selbst, ihre Zugehörigkeit sein soll. Womit und mit wem kann sie sich identifizieren, wenn doch in Filmen und Büchern hauptsächlich weiße Mädels durchs Bild tanzen, die gar keine Schwierigkeiten mit dieser Thematik haben? Als Vorbild bietet sich zum einen ihre Cousine Priti an, die in Birmingham aufgewachsen ist und mit ihrer indischen Herkunft scheinbar gar keine Schwierigkeiten hat. Dann ist da Indien als Land an sich, aber dort war Nivedita noch nie und wird so schnell auch nicht dorthin hinkommen. Eine weitere Kandidatin zur Identifikation ist die Professorin, bei der sie studiert und um die herum sich ein regelrechter Personenkult gebildet hat: Saraswati, die keine “Weißen” in ihre Seminare lässt und ihre Star-Studentin Nivedita dazu bringt, sich provokant mit ihrer eigenen Herkunft, ihrem Selbstbild und dem Alltagsrassismus auseinanderzusetzen, der ihr als “mixed person” widerfährt. Und dann ist da noch die Hindu-Göttin Kali, die allmächtige Zerstörerin, die beim Sex immer oben liegt und an ihrer Hüfte einen Gürtel aus abgerissenen Männerarmen bzw. eine Kette aus Männerköpfen trägt. Mit Kali hält Nivedita bei schwierigen Fragestellungen oft Zwiesprache in ihrem Kopf und hält diese Gedanken auf ihrem Blog “Identtiti” fest. “Identitti” hat zahlreiche begeisterte Follower*innen und selbst der Deutschlandfunk will Nivedita zu ihrem Blog interviewen. Doch für Nivedita steht plötzlich alles Kopf, als herauskommt, dass ihre Professorin gar keine “mixed” Herkunft besitzt, sondern eine “weiße” Deutsche ist, die ihre Haut hat künstlich nachdunkeln lassen. Auf einmal muss Nivedita alles hinterfragen: ihre Verbindung zu ihrem Vorbild, ihre Meinung auf ihrem Blog, auf dem sie Saraswati vor den Enthüllungen noch hochgelobt hat, und natürlich ihre eigene Identität.
Identitti ist ein bisschen von allem: coming of age, Postkoloniale Theorie, Lyrik, Twitter-Abrisse und Seminarniederschriften. Vor allem ist Identitti aber trotz (oder wegen?) der komplizierten Thematik zum Auf-der-Couch-Rumrollen witzig.
"Weil seine eigene Verletzung beschreiben zu können ein wichtiger Schritt zur Selbstermächtigung ist." ("Identitti" - Mithu M. Sanyal)
Gelesen auf: Deutsch
Nase zwischen den Seiten: 7 Abende
Seitenanzahl: 432
Preis: 22,00€ (D)
Erschienen im Februar 2021 beim Hanser Verlag
ISBN: 978-3446269217
Leseerlebnis
Identitti bedient sich regelmäßig aus dem Referenzkasten postkolonialer Theorien und dropped oft Namen wie Edward Said, bell hooks oder auch Konzepte wie “the subaltern”, ebenso Bezeichnungen wie BIPOC, transracial und genderfluid. Was ich damit sagen will: Das Buch spricht eine gewisse Zielgruppe an, nämlich jene, die ungefähr wissen, was mit den Wörtern zu verbinden ist und wo diese einzuordnen sind. Das heißt aber auch, dass Leute, die mit diesen Begriffen nicht viel anfangen können, sich entweder durch ein Terminologie-Netzwerk lesen müssen oder vielleicht zum Text keinen Zugang haben. Ich fand’s bereichernd, aber kann mir vorstellen, dass andere sich davon eventuell befremdet fühlen.
Boobscore: 4 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • )
Bei Identitti habe ich mit mir gerungen. Sind vier Boobs zu viel? Doch lieber drei vergeben? Mit Identitti ist es nämlich so, dass der Roman nicht “in your face”-feministisch ist, sondern eher indirekt und implizit. Nivedita bezeichnet sich beispielsweise selbst als Feministin, ebenso wie ihre Freundinnen. Nivedita bloggt auf “Identitti” über Haare an weiblichen Brustwarzen, sie sinniert über die Sexstellungen von Kali mit anderen Göttern und Göttinnen und erzählt frei von den sexuellen Erfahrungen, die sie und ihre Cousine Priti machen. Auch in ihrer WG vertuschen ihre Mitbewohnerinnen ihr Sexleben nicht. Eigentlich macht jede Frau* im Roman sexuell (mehr oder weniger), was sie will.
"Zu diesem Zeitpunkt fand Nivedita Jürgen schon lange nicht mehr so faszinierend wie Yannick. Und Priti entschied, dass es Zeit war, ... ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Ihre im Plural." ("Identitti" - Mithu M. Sanyal)
Das ist eben das Ding mit Identitti: Das Buch ist auf eine selbstverständliche Weise feministisch. Soll heißen: Im Fokus stehen andere Themen wie Postkolonialismus, Rassismus, Identität und Herkunft. Gleichzeitig sind aber all diese Aspekte eng mit dem Feminismus verbunden, der sich ebenso mit der Selbstermächtigung der systematisch unterdrückten Frau* befasst wie der Postkolonialismus mit der Selbstermächtigung von ausgegrenzten und unterdrückten “Anderen”. Damit will ich nicht beides über einen Kamm scheren, sondern sagen, dass einige Aspekte des Feminismus untrennbar vom Postkolonialismus sind. Daran knüpft ein weiteres Element an, was ich zum Boob Score dazuzählen will: Die Frage nach Rollenbildern, in der Literatur, in der Popkultur, im täglichen Leben wie in der Familie oder im Freundeskreis. Nivedita ist die ganze Zeit auf der Suche nach sich selbst und nach dem passenden Vorbild für sich. Ihre Mutter ist es nicht wirklich, ihre Cousine Priti ab und zu, wenn sie Nivedita nicht gerade als “Coconut” (1) bezeichnet. Natürlich ist Saraswati für eine Zeit Niveditas role model, bis sie als (vermeintlich) “Weiße” enttarnt wird. Und dann ist da natürlich noch Kali. Doch während Nivedita unablässig auf der Suche nach Zugehörigkeit und Identitätsvorbildern ist, wird sie, ganz nebenbei, selbst zum Vorbild für alle, die sich in Büchern, Filmen und Kunst nicht repräsentiert fühlen. Und noch ein letzter Aspekt: Fast alle Figuren, die in Identitti eine Rolle spielen, sind Frauen*. Deswegen gibt’s schlussendlich doch vier von fünf Boobs!
Literarisches Feuerwerk?
Sprachlich ist Identitti ein absoluter Genuss: “Für Nivedita waren Bücher Einmachgläser für Gerüche und Gefühle und erst danach für Geschichten und Gedanken. Jedes der Bücher in den Weinkistenregalen in ihrem WG-Zimmer überwältigte sie bei jedem Öffnen erneut mit sensorischen Sensationen … wie Herbarien, in die sie wundersame Gänseblümchen und Calendula gepresst … hatte.” (190). Muss ich mehr zitieren?
Stoff zum Nachdenken
Aus Identitti kann ich nicht den einen Aspekt herausgreifen, über den ich im Anschluss lange nachgegrübelt hätte. Denn das ganze Buch ging mir in all seinen Facetten nach: Habe ich in der Schule irgendetwas über Deutschlands Kolonialgeschichte gelernt? Fehlanzeige. Oder habe ich bewusst schon mal intensiv über die Identitätssuche von PoC oder Leuten mit "mixed" Herkunft nachgedacht? Nö. Und, da geht’s schon weiter: Welcher Begriff ist überhaupt ok? “Mixed People”? Finde ich irgendwie unpassend, aber das zu entscheiden, sollte nicht an mir liegen. Hierzu übrigens ein lesenswerter Artikel auf vansista.
Bestes Geburtstagsgeschenk für…
… natürlich alle, die sich in den herkömmlichen Narrativen nicht wiederfinden, also PoC, Menschen mit einer “mixed race”-Herkunft, Migrant*innen. Alle, die auf der Suche nach einer Identität sind oder eine Figur bei der Identitätssuche begleiten wollen. Und alle, die einfach Lust auf ein richtig witziges Leseerlebnis haben.
Happy Hour
In “Identitti” setzt Saraswati Nivedita ständig Kräuter-Tee vor, z. B. aus Mariengras. Habe ich noch nie getrunken, aber der Duft, den ich mir beim Lesen vorgestellt habe, ist eine betörende Mischung aus würzig, süß und rauchig.
Zu dieser Lebenslage passt das Buch
Im Wartezimmer beim Arzt, an der Bushaltestelle, auf der Bank am Spielplatzrand. Überall dort, wo man kurz die Zeit hat, für ein paar Minuten in eine komplett andere Geschichte einzutauchen.
A little Bio never killed nobody
Mithu M. Sanyal, Jahrgang 1971, stammt aus Düsseldorf und arbeitet als Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Ebenso wie bei ihrer Heldin Nivedita stammte ihre Mutter aus Polen und ihr Vater aus Indien, wodurch Sanyal als Kind und Jugendliche keine Rollenbilder in den Medien zur Verfügung standen. Identitti ist ihr erster Roman. Davor schrieb sie vor allem preisgekrönte Sachbücher wie “Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts” oder “Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens”. 2017 sorgte Sanyal für viel Kontroverse um den Begriff des “Opfers” bei Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt und der daraufhin von ihr vorgeschlagenen Alternative “Erleben”, was von Kritiker*innen als eine Verharmlosung bzw. ein Anraten zur Vergewaltigung umgedeutet wurde.
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(1) Coconut ist ein Begriff, der oft schimpfwörtlich für Menschen mit gemischter Herkunft gebraucht wird und unter dem Vorwurf steht - außen bist du eine PoC, innen aber weiß und daher keine echte PoC mit all dem, was dazugehört: Das geschichtliche Erbe, die Ausgrenzung, der systemische Rassismus.
