"FRAUEN LITERATUR" von Nicole Seifert

Worum geht’s?
Bevor ich beschreibe, worum es geht, eine kurze Anmerkung zum Sprachgebrauch: Ich bin selbst sehr bemüht, eine gendergerechte Sprache zu verwenden und habe vor dem Schreiben dieser Rezension länger überlegt, wie ich am besten über dieses Buch schreiben kann. Die Autorin selbst schreibt direkt zu Beginn: „Ich spreche deshalb von Autorinnen, wenn nur Frauen gemeint sind, und von Autoren, wenn nur Männer gemeint sind.“ Ich werde in dieser Rezension „Frauen*/Männer*“ und „Autorinnen*/Autoren*“ nutzen. Das Sternchen steht für alle Personen, die sich unter der Bezeichnung „Frau“ oder „Mann“ definieren, definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen. Ich bin selbst sicher keine Expertin auf diesem Gebiet und nehme Verbesserungsvorschläge von Menschen, die sich mit dem Thema besser auskennen, sehr gerne an.
Jetzt aber kurz zum Inhalt: Es geht in diesem Buch um die strukturelle Diskriminierung von Autorinnen*. Es beschreibt die verschiedenen Dimensionen dieser Diskriminierung, regt zur Reflexion der eigenen Lesebiographie und eigener literarischer Prägungen an und offenbart den unterschiedlichen (öffentlichen) Umgang mit Autorinnen* im Gegensatz zu Autoren*. Und beschreibt, wie unfassbar viele Schriftstellerinnen* aufgrund dieser Strukturen in Vergessenheit geraten konnten.
“Durch die Geschlechts-und Farbenblindheit, die oft so selbstbewusst wie unreflektiert behauptet wird, werden immer wieder dieselben Gruppen bevorzugt, immer wieder dieselben Perspektiven wiederholt, und so werden auch immer wieder dieselben unsichtbar gemacht.” („FRAUEN LITERATUR“ – Nicole Seifert)
Gelesen auf: Deutsch
Nase zwischen den Seiten: 3 Abende
Seitenanzahl: 224
Preis: 18,00€ (D)
Erschienen im September 2021 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00236-2
Leseerlebnis
Ich hatte hohe Erwartungen, was ja gerne zu großen Enttäuschungen führt, aber in diesem Fall zum Glück überhaupt gar nicht. „FRAUEN LITERATUR“ ist eines dieser Sachbücher, die so geschrieben sind, dass sie sich auch noch sehr gut nach einem stressigen Arbeitstag lesen lassen. Vieles vom Inhalt hatte ich zwar erahnt, aber die Ausmaße der beschriebenen Diskriminierung von Autorinnen*, früher und heute, waren mir so nicht bewusst. Durch den sehr einleuchtenden und nachvollziehbaren Aufbau des Buches ist es leicht, der Autorin zu folgen. Außerdem bleiben ihre Texte durch viele verschiedene Zitate sehr lebendig. Einerseits werden die gesellschaftlichen und strukturellen Dimensionen gut verständlich beschrieben, parallel dazu lief bei mir von Beginn an ein eigener Reflexionsprozess über meine Lesegeschichte und eigene internalisierte Vorurteile. Auch wenn dieses eigene kritische Hinterfragen kontinuierlich angeregt wird, hat Nicole Seifert mich nicht bedröppelt mit einem schlechten Gewissen im Regen stehen lassen, sondern mir riesige Lust darauf gemacht, noch mehr Bücher von Autorinnen* zu lesen. Vor allem die Leseliste im Anhang am Ende des Buches hat mich total motiviert, ab jetzt immer wieder schon etwas ältere Lektüren in meine Lesepläne einzubauen, um den vergessenen Schriftstellerinnen* einen Platz in meiner zukünftigen Lesebiographie zu geben.
Boobscore: 5 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • ) ( • )
Zum ersten Mal gebe ich aus aller vollstem Herzen fünf von fünf Boobies! Ich bin Nicole Seifert richtig dankbar für dieses Buch. Ich will, dass es Schullektüre wird, Pflichtstoff für alle und vor allem für alle im Literaturbetrieb Arbeitenden. Dass alle, die es lesen, mit einem „spread the message“ - Gefühl allen, die sie kennen, davon erzählen. Und dass das alles wiederum hilft, die Umstände langsam, aber nachhaltig, Schritt für Schritt, positiv zu verändern. Und, ganz optimistisch gedacht, dass in fünf Jahren Nicole Seifert ihr eigenes „Druckfrisch“ („Druckfrisch“ ist ein von Denis Scheck moderiertes Literaturmagazin der ARD) bekommt, mit ganz fantastischen Einschaltquoten. ;)
Literarisches Feuerwerk?
Wenn wir die Kategorie ausnahmsweise so auslegen, das sie aussagt, ob Literatur gebührend gefeiert wird, ist es ein ganz großes Feuerwerk. Nicole Seiferts Liebe zur Literatur liest sich aus vielen Zeilen heraus und auch, dass sie dadurch aus einem sehr starken Antrieb dieses Buch geschrieben hat. Mein Eindruck war, sie will aus dieser Liebe heraus die Bedingungen für schreibende Frauen* dringend verbessern und auf die nach wie vor bestehenden Missstände laut und eindringlich aufmerksam machen.
Stoff zum Nachdenken
Ich habe vor ungefähr zwei Jahren begonnen, eine Frauen*quote in meine Lesegewohnheiten einzuführen. Das heißt bei mir, von drei Büchern müssen immer mind. zwei von Autorinnen* sein (da ich in der Regel drei Bücher parallel lese, ist das ziemlich leicht umzusetzen ;) ). Das hat in den letzten beiden Jahren dazu geführt, dass ich nur noch relativ selten Bücher von Autoren* lese, also der Anteil an gelesenen Schriftstellerinnen* ist schnell, und gefühlt wie von alleine, noch höher geworden als geplant. Es ist nicht so, dass ich weibliches Schreiben als anders empfinde bzw. dass meiner Meinung nach überhaupt von “weiblichem Schreiben” gesprochen werden kann (Nicole Seifert sieht das auch so, aber kann es in dem Kapitel “Weibliches Schreiben?” viel besser erklären als ich :) ). Aber durch die patriarchalen Strukturen, die ja nun mal zu unserem Leben gehören, schreiben Frauen* natürlich aus anderen Erfahrungen, sozialen und somit auch persönlichen Eindrücken. Eindrücken, die meinem inneren Erleben auf eine andere Art ähneln. Auf eine andere Art, als wenn ich an das Buch eines Krimiautoren* denke, das ich kürzlich gelesen habe. In dem ein Schiftsteller* zu einem großen brillanten Helden hochstilisiert wird, der sich mit Mitte 30 in ein 15-jähriges Mädchen verliebt, die ihre vollständige Erfüllung darin erlebt, sich um seinen Haushalt und sein leibliches Wohlergehen zu sorgen, damit er weiter seine genialen Werke zu Papier bringen kann. Das Krasse ist, dass mir dieser patriarchale Hammer vor ein paar Jahren glaub ich noch gar nicht sonderlich aufgefallen wäre. Weil diese Geschichte schon so oft so oder so ähnlich erzählt wurde und somit so verdammt vertraut geworden ist. Nicole Seifert setzt sich dafür ein, dass wir neue Geschichten brauchen.
Bestes Geburtstagsgeschenk für …
… also wie ihr euch vielleicht schon denken könnt, mein Tipp lautet: Bitte, bitte einfach allen :D. Sollte die Frage sein, mit wem am besten anfangen: Ich würde Personen, die auf irgendeine Art enger mit dem Literaturbetrieb verbunden sind, bevorzugt damit in den Ohren liegen, dass sie dieses Buch lesen müssen.
Happy Hour
Entweder tröstlicher Kakao unter warmer Decke, weil das Aufdecken und Sichtbarmachen von patriarchalen Strukturen ja auch immer deprimierend ist. Oder Wodka auf Eis und gute Freund*innen, um sich gemeinsam aufzuregen und sich gegenseitig zu motivieren, etwas zu ändern.
Zu dieser Lebenslage passt das Buch
Da ich dieses Buch so wichtig finde, muss ich hier in eine ähnliche Kerbe hauen wie bei den Geschenken: Zu einfach jeder. Ganz lebenslagenunabhängig hoffe ich, dass der Inhalt in nur wenigen Jahren zur sogenannten Allgemeinbildung gehört oder zumindest sehr viele Menschen etwas mit ihm anfangen können.
A little Bio never killed nobody
Nicole Seifert ist gelernte Buchhändlerin, ehemalige Lektorin und arbeitet u. a. als Übersetzerin und Autorin. Sie hat Amerikanistik sowie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft studiert und 2006 promoviert (in ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit autobiographischen Aufzeichnungen von Schriftstellerinnen*, die nach deren Tod von ihren Ehemännern veröffentlich wurden, u.a. von Virginia Woolf). Seit 2018 ist sie erfolgreich mit ihrem Literaturblog „Nacht und Tag“, dessen Fokus neue und wieder entdeckte Literatur von Frauen* ist (und den ich an dieser Stelle auch noch sehr gern empfehlen möchte;) ). Ich kann mir kaum eine qualifiziertere Ablösung für die Schecks dieser Welt vorstellen und hoffe, dass ihre Arbeit in den nächsten Jahren noch bekannter und anerkannter werden wird.
Dieser Beitrag ist von unserer Gastbloggerin Laura. Das sagt Laura über sich: 2020 war für mich zumindest nicht nur ausschließlich mies, weil ich endlich auf die Idee gekommen bin, da mir beim Lesen ständig die Augen zufielen, dass ich eine leichte Sehschwäche habe (und nicht wie zuerst gedacht ständig müde war:D). Und es kam der heilige Moment, in dem ich mir die Lesebrille auf die Nase setzen und das alte Lesepensum wieder aufnehmen konnte.
Ich arbeite als Psychologin in einer Frauenberatungsstelle und mein Schwerpunktthema dort ist Sexualisierte Gewalt. Ich mache diese Arbeit wirklich sehr, sehr gerne, aber natürlich ist es manchmal emotional mehr als anstrengend und wenig holt mich so schön runter wie das Lesen. Ansonsten liebe ich Katzenpfötchen, werde mir irgendwann einen Retromops kaufen (ja, die können vernünftig atmen! :D) und ohne Espresso mit Milchschaum fühl ich mich unvollständig. Laura hat für Boob Books schon einige tolle Rezensionen geschrieben.
Lest z. B. ihre Rezi zu Vortreffliche Frauen von Barbara Pym.
