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"Frankissstein" von Jeanette Winterson



Worum geht’s?

Was wäre, wenn das wohl bekannteste Monster der Literaturgeschichte - die Kreatur aus Mary Shelleys Frankenstein - in einer High-Tech-Zukunft zu neuem Leben erwachte? In Frankissstein verlaufen gleich zwei Zeitstränge parallel zueinander: Einerseits erzählt der Roman aus der Perspektive der jungen Mary Shelley die berühmte Begebenheit in der Villa Diodati: Mary, ihr Mann Percy und (next to others) der Lebemann Lord Byron denken sich je eine Schauergeschichte aus. Im Text tauchen wir ein Marys Gedankenwelt, in den Prozess ihrer Ideenfindung und was sie außerhalb ihres Schreibens bewegt - der Tod ihres ersten Kindes, der Suizid der Ex-Frau ihres Mannes Percy und der Tod und das Leben an sich.


Fast forward into the future: In der zweiten Zeitebene sind wir in einer fiktionalen Zukunft, die aber nah dran an unserer Realität erscheint. Künstliche Intelligenz (KI) ist Hot Topic und moderne Sexroboter (alle weiblich, mit F-Cups, ist klar) machen Männern das Leben einfacher. Hauptfigur in dieser Welt ist der nichtbinäre* Arzt Ry Shelley, der/die sich mit dem dubiosen Victor Stein einlässt. Victor Stein hat vor allem eins im Sinn: das menschliche Gehirn und seine enorme Kapazität vom Körper loszulösen und in eine Cloud zu verfrachten. Dabei helfen soll ihm Ry, die/der ihm aus einer Klinik die Körperteile für seine makaberen Experimente besorgt. Ihr seht schon - in der futuristischen Welt werden alle Charaktere aus dem Zeitstrang von 1816 mit leicht abgeänderten Namen wiedergeboren. Und wieder einmal wirft Wintersons Frankissstein die uralte Frage auf, wer das eigentliche Monster ist: der Doktor, oder die namenlose Kreatur, die er zum Leben erweckt.


“The doctor of the future will be a robot. But skin is skin, and flesh is flesh, and you can’t learn anatomy from textbooks and videos” ('Frankissstein' - Jeanette Winterson)

Gelesen auf: Englisch

Nase zwischen den Seiten: 6 Nachmittage

Seitenanzahl: 352

Preis: ca. 12,99€ (D) auf Englisch; 18,99€ auf Deutsch

Erschienen im Oktober 2019 bei Kein & Aber

ISBN: 978-1787331419

Tipps & Tits

  • Eher eine Empfindung, als ein Tipp: Guckt doch mal in die Texte rein, auf die Frankissstein permanent verweist: Mary Wollstonecrafts A Vindication of the Rights of Woman, James Taylor Coleridges The Ancient Mariner … ja, vielleicht sogar ein Gedicht von Lord Byron.

  • Falls ihr Zeit, Nerven und noch keine Winterson-Überdosis habt, lest ihren Roman The Stone Gods im Anschluss an Frankissstein. Die Romane verweisen durch Worte und Formulierungen aufeinander, und es macht einen Heidenspaß, dieses Netzwerk aufzuschlüsseln. Da schwillt das Herz der alten Literatur-Nerdin auf.


Boobscore: 5 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • ) ( • )

Was soll ich sagen? Jeanette Winterson schnürt uns wieder mal ein prall gefülltes Boob-Paket: Klar, Mary Shelley hat sich mit Frankenstein eh ihren Platz im literarischen Kanon der Klassiker für alle Zeiten erobert. Trotzdem ist ihr Erbe immer noch ungelöst von dem ihres Mannes Percy. Winterson lässt Mary Shelley im Roman die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen. Damit bekommt Mary ihre ganz eigene Bühne für ihre Gefühle und für ihre sensationell revolutionären Gedanken. Mary wird plastisch, dreidimensional und greifbar für die LeserInnen - eine Frau, die schwitzt, trauert, blutet, die einfach menschlich ist, mit menschlichen Problemen und Sorgen. Im Buch ist sie beides: die literarische Koryphäe, die über Jahrhunderte hinausragt, und die normale Frau, die Spaß an Sex hat und sich über Lord Byrons frauenfeindliche Kommentare aufregt.


In der Zukunftswelt ist Ry die Person, die mit veralteten Gendernormen bricht: Ry identifiziert sich als transgender, als Mann und Frau, und in diesem Körper und in dieser Form fühlt sie/er sich real und wohl. Nichts muss infrage gestellt werden, Ry muss sich für nichts entschuldigen und sich vor niemandem rechtfertigen. Winterson salutiert im Buch der LGBTQI*-Szene, deren Bedürfnisse und Struggles in den Vordergrund gestellt werden. Das Buch regt dazu an, sich mit genau diesen Problemen auseinanderzusetzen und Empathie zu entwickeln für jene, die definitiv mehr Offenheit in unserer Gesellschaft gebrauchen könnten.


“I am what I am, but what I am is not one thing, not one gender. I live with doubleness.” ('Frankissstein' - Jeanette Winterson)

Noch ein großes Thema im Buch: Die Zukunft von Sex, und von Körpern, besonders den weiblichen. Winterson installiert eine groteske (aber auch echt witzige) Wiedergeburt von Lord Byron in der Zukunftswelt, der unter dem Namen Lord Ron weibliche Sex-Roboter baut, die natürlich alle wie weibliche Pornostars aussehen.


“Well, where do you think the holes are? Front. Back. Mouth. Not her nostrils!” ('Frankissstein' - Jeanette Winterson)

In den Medien werden wir kontinuierlich zugeklatscht mit Bildern des perfekten weiblichen Körpers - was auch immer das bedeuten mag. In Frankissstein wird uns nicht nur dieses absurde Körperbild um die Ohren gepfeffert, sondern auch mal wieder in aller Deutlichkeit plakatiert, wie Frauen nach wie vor überall auf der Welt auf ihre Körper und auf ihre Körperöffnungen reduziert werden. Allerdings belehrt uns der Roman nicht, er reibt uns das in herrlich ironischer Manier unter die Nase.


Literarisches Feuerwerk

Als eingefleischtes Winterson-Fangirl kann ich natürlich nur in die Welt hinausrufen: Ja! Ja! Und nochmals: JA! Und kein Begriff trifft es in diesem Fall besser, als ein Feuerwerk - eine Explosion von Wortgarben und Phrasenregen. Und ganz abgesehen von der ganzen feministischen Tiefe, macht’s einfach Spaß, den Text zu lesen, weil sich Charaktere ständig bissige Dialoge liefern.


Stoff zum Nachdenken:

Wenn wir mal aus der Feminismus-Ecke heraustreten, dreht sich der Text auch viel um die Zukunft von Technologie, besser gesagt: um unser Neben- und Miteinander mit Technik und hochintelligenten Systemen. Dabei lässt Winterson in Frankissstein beide Seiten zu Wort kommen: die Futuristen, die eine Übernahme der Welt durch eine Superintelligenz geradezu herbei beten, als auch die Skeptiker, die (immer noch) an die Einzigartigkeit des Menschen und menschlicher Gefühle glauben.


Bestes Geburtstagsgeschenk für …

… jeden, der sich gerne mit den Themen Künstliche Intelligenz, der Zukunft des Menschseins und dem technischen Fortschritt an sich beschäftigt - und der/die wissen will, wie Doktor Frankenstein und sein Monster ins 21. Jahrhundert passen.


Happy Hour

Bloody Mary - was sonst?


Zu dieser Lebenslage passt das Buch:

Besonders zu zwei:

  1. Wenn man so richtig Lust auf ein witziges, leicht herunterzulesendes Buch hat, dass einen erheitert und zum Philosophieren schubst

  2. Wenn man gerade den neuesten Artikel zu KI und hyperintelligenten Computern gelesen hat und wissen will, wohin die Reise potentiell gehen könnte


A little Bio never killed nobody

Jeanette Winterson aus Manchester in UK ist eine preisgekrönte Fiction-Schriftstellerin, die für Werke wie Oranges are not the only Fruit, Ingenious und, ganz frisch auf dem Buchmarkt, Frankissstein - A Love Story bekannt ist. Ihre erste Beziehung mit einer Frau hatte sie mit 16, was zu einem Bruch mit ihren religiösen Eltern führte. Die hatten sich für sie nämlich eine berufliche Laufbahn als Missionarin vorgestellt. Fun Fact: Winterson wuchs in einem Haus ohne Badezimmer auf. Da Bücher im Haus nicht gerne gesehen wurden, nahm sie die Bücher, die sie las, mit nach draußen aufs Plumpsklo und las per Taschenlampe. Außerdem züchtet sie Schafe und schreibt gerade an einem Essay-Band über künstliche Intelligenz. Generell ist das Leben der Frau der Hammer, check it out: http://www.jeanettewinterson.com/about/


*https://www.nonbinary.ch/non-binaeres-geschlecht/


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