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"Die Nachricht" von Doris Knecht



Worum geht’s?

Ruth trauert. Nicht nur um ihren Mann Ludwig, der nach einem Unfall plötzlich verstarb, sondern auch um das verlorene Vertrauen. Denn: Nach seinem Tod erfuhr sie von seiner Affäre, mit der sie ihn zeitlebens nicht mehr konfrontieren kann. Ruth versucht, ihr Leben neu zu ordnen, sich mit Familie und Freund*innen im selbst gebauten Holzhaus zu umgeben. Doch dann erhält sie anonyme Nachrichten, voller Diffamierungen und Beleidigungen, die sie skeptisch gegenüber Mitmenschen werden lässt. Diese Nachrichten greifen genau das an, was einer patriarchalen Gesellschaft nicht gefällt: Ruth ist unkonventionell, stemmt sich gegen vorgefertigte Rollen als Ehefrau und Mutter, lebt in einer Patchwork-Familienkonstellation und äußert sich als Schriftstellerin auch in der digitalen Öffentlichkeit kritisch.


"In den Augen der anderen verpflichtete mich das zur Dankbarkeit für das unverdiente Glück eines solchen Ehemanns, ich sollte froh sein, über das bisschen weniger Ungerechtigkeit, dass ich nicht ganz so selbstverständlich für Küche und Familie zuständig war wie andere Ehefrauen und Mütter. Als sei es in Wirklichkeit anders für mich vorgesehen gewesen, und das war es im Prinzip auch, und ich fühlte in mir so etwas wie einen trotzigen Zwang, (…)“ (‚Die Nachricht' – Doris Knecht)

Die Nachrichten erreichen auch ihre Kinder, Freund*innen und das berufliche Netzwerk. Mal folgen viele aufeinander, mal ist Funkstille. Die Nachrichten fressen sich in Ruths Alltag. Sie fängt an, sich und andere zu hinterfragen, kommt an ihre Belastungsgrenzen, doch dann kann sie ihre Stärke zurückgewinnen. Dies spiegelt sich auch in ihrer toxisch anmutenden On-/Off-Beziehung wider, die sie mit dem ehemaligen Psychotherapeuten ihres Sohnes führt. Doris Knecht gelingt es in Die Nachricht richtig gut, gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen darzustellen. Ruths Freund*innen zeigen anfangs noch Mitgefühl. Doch schleichend beginnen einige sich von ihr abzuwenden, Ruths Verhalten infrage zu stellen und sie für verrückt zu erklären.


„Sie sind immer noch meine Freunde, und das sind sie, weil wir aufgehört haben, darüber zu reden“ (‚Die Nachricht‘ – Doris Knecht)

Gelesen auf: Deutsch

Nase zwischen den Seiten: 3 Abende und eine lange S-Bahn-Fahrt

Seitenanzahl: 253

Preis: 22€ (Hardcover)

Erschienen Juli 2021, Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH

ISBN: 978-3-8321-7085-1

Leseerlebnis

Ich liebe gelungene Spannungsbogen und das hier, liebe Freund*innen der Boobbooks-Literatur, war ‚nen guter! Auch bei einem kleinen Kreis möglicher Täter*innen blieb es für mich bis zum Ende spannend. Mitzuverfolgen, wie die Protagonistin dem Täter auf die Schliche kommt, und wie sich die Beziehungsgeflechte psychologisch genau entwickelten, empfand ich als Bereicherung. Dabei liebte ich Knechts scharfen Blick für Gefühle, kreisende Gedanken und Unsicherheiten. Ihre Darstellung wirkte zeitweise wie ein Psychogramm. I like!

Boobscore: 3 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • )

Diese Bewertung fiel mir dieses Mal schwer. Ich würde Knechts Roman nicht als emanzipatorisches Werk einordnen, bei dem es um Ermächtigung und Zusammenschluss von Frauen* gegen Misogynie geht. Vielmehr stellt es eine einfühlsame Darstellung dar, welchen Einfluss frauen*verachtende digitale Gewalt auf Individuen und ihre Beziehungen haben kann. Knecht schafft es auf beeindruckende Weise, die Manifestation von Misogynie in verschiedenen alltäglichen Lebenswelten zu beleuchten, ohne den Dauerstrahler rauszuholen. Dies zeigt sich z. B. als Ruths Stieftochter schwanger wird, aber partout nicht erzählen will, wer der Erzeuger ist. Oder auch in Ruths Struggle, eine feministische Ehe mit ihrem verstorbenen Ehemann Ludwig zu führen, was leider nur auf der Oberfläche zu funktionieren schien. Insgesamt daher nur 3 von 5. Literarisches Feuerwerk?

Oh yes! Zwar stellt der Roman meiner Meinung nach keine literarische Sensation dar (die Messlatte ist auch hoch), aber es gab einige viele Stellen, die ich bunt markiert und bewundert habe. Ich muss aber auch gestehen, dass ich lange Sätze, die durch viele Kommata getaktet sind, wirklich liebe – und von denen gibt es eine Menge! Stoff zum Nachdenken

Die Nachricht ist von einer Vielschichtigkeit geprägt, bei der sich Nuance für Nuance feministische Anliegen nachspüren lassen. Daher gibt es auch ein ganzes Bündel an Themen, über welche sich das Nachdenken lohnt. Besonders eindrücklich schildert Doris Knecht, welche innerlichen und zwischenmenschlichen Wunden Stalking und digitale Hassnachrichten auslösen können. Denn: Laut Bundeskriminalstatistik haben 19.666 Personen im Jahre 2020 Anzeige gegen Stalking erstattet – rund 80 % der Betroffenen waren Frauen*. Und geschlechtsspezifische digitale Gewalt hat es bei vielen in den Alltag geschafft, sei es das ungefragte Dickpick oder Anfeindungen, wenn man sich im Netz als Feministin äußert. Neben den gesellschaftspolitischen Themen hat mich insbesondere das Verhalten der Protagonistin bewegt. Sie stellt für mich keine feministische Heldin dar, nicht mal ein Vorbild. Besonders deutlich wurde dies an der Stelle, als sich Feminist*innen im Netz zusammenschlossen, um die Identität eines misogynen Mistkerls bekannt zu machen. Anstelle sich ihnen anzuschließen und Beweismaterial zu liefern, entschied sie sich … nichts zu tun. Im ersten Moment war ich enttäuscht, sogar frustriert. Bis ich verstanden habe, dass wir neben den feministischen Held*innen-Geschichten auch andere Erzählungen brauchen, die uns die Komplexität und Vielfalt an Gefühls-, Verhaltens- und Bewältigungsmaßnahmen aufzeigen. Als außenstehende Leserin hatte ich hohe moralische Erwartungen an die Protagonistin. Doch wie würde ich reagieren, wenn die Protagonistin eine nahestehende Freundin wäre? Wahrscheinlich indem ich sie bedingungslos unterstütze, damit sie die Geschehnisse bestmöglich verarbeiten kann – so hoffe ich es zumindest.

Bestes Geburtstagsgeschenk für …

Freund*innen und Bekannte, auf deren Bücherregal sich feministische Literatur, psychologische Sachbücher und Thriller bzw. Krimis tümmeln – und ihr ihnen eine Mischung aus allem schenken wollt.

Happy Hour

Kühles Bier, Sonnenschein im Gesicht und eingemummelt in einer leichten Decke, damit man ja nicht friert – das wäre perfekt!

Zu dieser Lebenslage passt das Buch

Es gibt Lebensphasen, in denen ich so von Studium und Erwerbsarbeit beschlagnahmt bin, dass ich mich in meiner Freizeit einfach nicht überwinden kann, krasse Sachbücher oder Memoiren zu lesen. Doris Knechts Die Nachricht ist ein perfektes Zwischending, wenn die kognitiven Ressourcen für knallharte feministische Texte nicht ausreichen, mensch sich aber dennoch mit diesen Themen auseinandersetzen möchte. Außerdem empfinde ich den Roman als perfekter Thriller-Begleiter für lange Bahnfahrten.


A little Bio never killed nobody

Die im österreichischen Vorarlberg geborene Doris Knecht ist eine österreichische Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten), Redakteurin und Schriftstellerin. Ihr erster Roman Gruber geht (2011) erhielt eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis, der sie auch wegen der anschließenden Verfilmung im Kino einem breiten Publikum bekannt machte. Es folgten weitere Romane wie Besser (2013), Wald (2015), Alles über Beziehungen (2017) und weg (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensberger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel. Laut eigener Kolumne kann sie sich mit dem „Wordleversum“ vom Schreiben ablenken - was ich absolut nachvollziehen kann.


Dieser Beitrag ist von unserer Gastbloggerin Nicole. Das sagt Nicole über sich:

Mein Herz schlägt ja ziemlich laut für Literatur, insbesondere für feministische Themen. Deswegen könnte ich mir immer mal wieder in den A**** beißen, mich nicht der Literaturwissenschaft verschrieben zu haben. Stattdessen studiere ich gegenwärtig Friedens- und Konfliktforschung (auch super!) und freue mich riesig, beiden Welten bei Boob Books Ausdruck zu verleihen. Neben dem Studium und dem Lesen flaniere ich liebend gern durch Frankfurt am Main, bin großer Fan von Drag-Shows und trinke ständig Milchkaffee.

Nicole hat bereits andere tolle Rezensionen für Boob Books verfasst, u. a. "Nur JA! heißt ja" von Shaina Joy Machlus und "Im Park der prächtigen Schwestern" von Camila Sosa Villada. Lest mal rein!


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