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"Blonde Roots" von Bernardine Evaristo

Aktualisiert: 27. Juni 2020



Worum geht’s?

Die Geschichte steht Kopf in Bernardine Evaristos Blonde Roots. Oder, wie eine Amazon-Rezension treffend formulierte: “Welcome to a world turned upside down”. Nicht die weißen Europäer haben Teile des afrikanischen Kontinents versklavt. Es sind “the Ambossans” - die People of Colour in UK (United Kingdom of Great Ambossa), welche in diesem Roman die weißen Europäer in Ketten gelegt haben. Historisch ist alles exakt verdreht - und wird auf diese Weise eben zur Realität. Die Ambossans beuten weiße Sklavinnen und Sklaven auf Zuckerplantagen und Feldern für ihren eigenen Profit aus, halten Menschen wie Vieh und haben sich auch sonst in jeder Hinsicht auf den Thron der “herrschenden Rasse” gesetzt, die den weißen, unzivilisierten Kohlbauern in Kilts weit überlegen ist … Naja, ihr kennt die Story. Kohlbauern und Kilts deswegen, weil viele der SklavInnen aus England stammen, wo man eben Kohl anbaut und sich auf besonderen Festen in die für Ambossans lächerliche Tracht der karierten Männerröcke wirft.


Im Zentrum der Handlung stehen sich zwei Figuren gegenüber - Doris Scagglethorpe und King Bwana. Doris, nach ihrer Versklavung in Omorenomwara umgetauft, wurde als Jugendliche aus England nach Ambossa verschleppt. Weil sie schreiben und rechnen kann, ist sie zur Assistentin von King Bwana aufgestiegen. Und die Geschichte im Buch beginnt an dem Tag, an dem Omorenomwara bzw. Doris zu fliehen versucht. Die Beschreibungen ihrer Flucht wechseln sich ab mit Blicken in die Vergangenheit: Doris erinnert sich an ihre Familie in England, wie sie entführt und auf ein Schiff verschleppt wurde, auf dem Vergewaltigung, Folter und Mord an den Sklavinnen und Sklaven auf der Tagesordnung standen.


“Great Ambossa is actually a very small island with a growing population to feed and so it stretches its greedy little fingers all over the globe, stealing countries and stealing people. Me included. I’m one of the Stolen Ones.” ('Blonde Roots' - Bernardine Evaristo)

King Bwana auf der anderen Seite ist ganz und gar nicht beglückt über Doris’ Flucht. In seiner Kampfschrift The Flame reflektiert er, wie er mit Omorenomwara verfahren wird, wenn er sie in die Finger bekommt - denn davon ist er überzeugt. Und dann wird sie das Schlimmste aller Schicksale erwarten, denn er muss schließlich ein Exempel statuieren ...


Gelesen auf: Englisch

Nase zwischen den Seiten: 5 Abende

Seitenanzahl: 272

Preis: ca. 13€ (D)

Erschienen im September 2009 bei Penguin

ISBN: 978-0141031521


Tipps & Tits

Blonde Roots steckt voller Querverweise und Referenzen auf “Urtexte” der Sklaverei und des Kolonialismus bzw. Texten, die sich kritisch mit dem Thema auseinandersetzen. Es ist also vielleicht mal wieder Zeit, Joseph Conrad’s Herz der Finsternis auszupacken.


Plus: Der Dialekt mancher Figuren im Buch ist schwer zu lesen. Was mir tatsächlich half: Die entsprechenden Passagen sich selbst laut vorlesen. Und gewisse Mitbewohner dadurch zum Prusten zu bringen.


Boobscore: 4 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • ) 

Wahrscheinlich keine große Überraschung, wenn es in einem Roman um (umgedrehte) Sklaverei geht, aber Frauen haben es in der Weltordnung von Ambossa besonders hart: Sie werden sexuell ausgebeutet, egal wie alt oder in welcher körperlichen Verfassung sie sind. Gruppenvergewaltigungen sind in Ambossa normal. (Weiße) Frauen sind ja eh bloß Eigentum, inklusive all ihrer Körperöffnungen. Wobei das dann niemand in Ambossa Vergewaltigung nennen würde, denn weiße Frauen haben schließlich nachgewiesenermaßen andere anatomische Strukturen als People of Colour, spüren weniger Schmerz und sind sowieso geistig so stumpf, dass sie überhaupt nicht verarbeiten können, was ihnen gerade widerfährt. Dasselbe gilt natürlich auch für die Sklaven, die regelmäßig und öffentlich durch Peitschenhiebe und körperliche Verstümmelung bestraft oder moralisiert werden.


“We slaves don’t end relationships. Other people do it for us. Often we don’t start them either, other people do it for us.” ('Blonde Roots' - Bernardine Evaristo)

Die Kinder, die aus diesen ungewollten Vereinigungen hervorgehen, werden entweder verkauft oder die Sklavinnen müssen sie unter den widrigsten Umständen großziehen - bis die Söhne stark genug zur Feldarbeit und die Töchter groß genug für Geschlechtsverkehr sind. Doris selbst hat zwar mehrere Kinder in die Welt gesetzt, doch keins davon blieb ihr in der grausamen Welt von Ambossa erhalten. Damit schaut Blonde Roots nicht nur sehr kritisch auf die imperiale Vergangenheit vieler europäischer Länder zurück und auf die Gräueltaten, die in Zeiten der Sklaverei begangen wurden, sondern wirft auch ein Licht darauf, dass viele der Grausamkeiten nie aufgearbeitet und einfach unter den Teppich der Geschichte gekehrt wurden. Und Sklaverei ist auch heute in vielen Ländern der Welt noch verbreitet - die Dinge, die im Buch beschrieben werden, passieren auch heute noch. Man schaue sich z.B. die Vertreibung der Rohingya an.


Next: In Ambossa gelten die gesellschaftlichen Ideale der Ambossans. Das bedeutet auch: Weiße Frauen werden als verabscheuenswert hässlich angesehen. Die helle Haut, die gelben Haare, die dürren Körper gelten als unschön. Gleichzeitig hängt den weißen Frauen aber der Ruf an, unersättlich zu sein, wenn es um Sex geht - weswegen die Männer diesen Drang natürlich ständig stillen müssen.


“‘I may blush easily, go rubicund in the sun and have covert yet mentally alert blue eyes. Yes, I may be whyte. But I am whyte and I am beautiful!’” ('Blonde Roots' - Bernardine Evaristo)

Was das Buch beschreibt, ist natürlich nichts anderes als Rassismus und auch, wie präsent dieser heutzutage noch überall ist. Im Roman ist er zwar nicht subtil, aber er bringt einen zum Nachdenken, wo Rassismus heutzutage immer noch um sich greift - und wie nahe man selbst vielleicht schon dieser Ecke war (oder Leute, die man kennt, sich regelrecht in diesem Sumpf suhlen ….


Note: Die Rezension haben wir vor dem Tod von George Floyd verfasst.


Literarisches Feuerwerk?

Bernardine Evaristo hat einen wunderbaren Stil, der mitreißt, fesselt und durch seine andauernde Satire auch piekst und zwickt und beißt. Gleichzeitig ist der Roman dann auch wieder poetisch und abschweifend, sodass das Gefühl aufkommt, dass man inmitten der Erlebnisse und Gedanken der Figuren steckt. Die exotischen Früchte, die wilden Tiere, die nackten Körper - man kann sie schmecken, riechen und unter den Fingern spüren. Sprache zum Anfassen!


Stoff zum Nachdenken 

Jeder Satz und jede Zeile spülte für mich jedenfalls einmal mehr ins Bewusstsein, welche unmenschlichen Taten an Leuten, Land und Kultur vonseiten der Kolonialherren und -damen an den kolonialisierten Völkern verbrochen wurden. Das Buch ist ein durchgehendes Gedankenexperiment - was wäre wenn - und hinterlässt somit nicht nur beklemmende Gedanken, sondern auch ein solches Gefühl in der Brust.


Bestes Geburtstagsgeschenk für:

Eigentlich jeden und jede. Denn mit den Themen sollten wir nie aufhören, uns zu beschäftigen, besonders wir im Wohlstands-Westen nicht. Aber wenn wir den moralischen Zeigefinger mal wegstecken, ist es einfach ein wahnsinnig spannendes Buch, das Spaß macht.


Happy Hour

Tatsächlich bin ich hier mal so frei, statt einem Drink eine Süßkartoffelsuppe zu empfehlen! Selbst getestet - dadurch wird die Kulisse noch einmal mehr zum Leben erweckt.


Zu dieser Lebenslage passt das Buch:

Zynisch gesagt: zu jeder Lebenslage, in der man sich gerade superwohl in seiner eigenen Haut und in seiner eigenen Welt fühlt. Weil manchmal dann genau der richtige Moment ist, sich aus der eigenen Komfortzone hinauszukicken und sich mit (fiktionalen und echten) Schicksalen zu befassen, denen es wesentlich weniger komfortabel erging und immer noch ergeht. Grundsätzlich ist das Buch auch super für jeden ruhigen Abend auf der Couch, bei dem man genug emotionale Stabilität hat, um sich auf etwas einzulassen, das weniger light ist.


A little Bio never killed nobody

Vor allem letztes Jahr machte Bernardine Evaristo Schlagzeilen - Da gewann sie nämlich für ihr Werk Girl, Woman, Other den renommierten Man Booker Prize. Den Award räumte sie ab zusammen mit einer unserer weiteren Heldinnen - Margaret Atwood. Nicht nur war Atwood im selben Alter wie Evaristo, als sie zum ersten Mal den Man Booker Prize erhielt. Wie Atwood es in einem Interview so schön ausdrückte: “Und wir haben beide lockiges Haar!”. Evaristo wurde 1959 als Tochter einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters in London geboren. Sie hat einen Doktorabschluss in Kreativem Schreiben und setzt sich in ihren Werken vermehrt mit der afrikanischen Diaspora auseinander. Vorbilder, besonders für junge Frauen, findet sie unheimlich wichtig: “Es ist super, wenn junge Frauen sehen, wie ältere Frauen ein erfülltes Leben leben”. (frei übersetzt von Jana)




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